Kurt Ludewig (2002): Leitmotive
systemischer Therapie.
Stuttgart: Klett-Cotta, 255 S.
Genau zehn Jahre nach Erscheinen seines ersten Buches "Systemische Therapie. Grundlagen klinischer Theorie und Praxis" legt Kurt Ludewig nun eine "eine kritische Bestandsaufnahme des bisher Erreichten" vor, wie es im Klappentext heißt. In dieser Bestandsaufnahme findet sich eine Auswahl von zwischenzeitlich publizierten Buch- und Zeitschriftenbeiträgen in überarbeiteter Form, ergänzt um einige für dieses Buch geschriebene Kapitel. Deutlich wird, dass Ludewig nicht einfach eine Sammlung von Vorarbeiten zusammengefügt hat. Die Beiträge sind thematisch, nicht in der zeitlichen Reihenfolge ihres früheren Erscheinens sortiert und es handelt sich in aller Regel um programmatische und weiterführende Texte. Sie nun in dieser Form zusammengefasst zu haben, finde ich nicht nur gerechtfertigt, sondern beinahe überfällig.
"Auf dem Weg zur Selbstverständlichkeit" lautet die Überschrift zur Einleitung, in der sich Ludewig unter anderem mit Bestrebungen auseinander setzt, eine "Einheitspsychotherapie" zu propagieren. Dem setzt er das Bekenntnis entgegen, es komme auf die persönlichen Aspekte von TherapeutInnen an, die sie "für den jeweiligen Klienten ansprechend und nachvollziehbar machen" . Die professionelle Psychotherapie lebe "von Menschen die bereit und in der Lage sind, ohne den Bezug zu sich selbst zu verlieren, eine hilfreiche Haltung einzunehmen, Kompetenz auszustrahlen und so Vertrauen zu wecken. Dafür benötigt man ein passendes Konzept, mit dem man sich identifizieren kann" (S.9). Überhaupt scheint mir, dass aus den sich wie ein roter Faden durch das Buch ziehenden Reflexionen über systemische TherapeutInnen als handelnde Personen eine eigene Färbung entsteht. Während in den 1992er "Grundlagen" für mich der gelungene Versuch dominierte, einen konzeptionell und methodologisch eigenständigen Ansatz zu beschreiben, beeindruckt mich hier das Auseinandersetzen damit, wie dieses Konzept mit Leben gefüllt werden kann, sozusagen. Zwar ermöglicht auch die Lektüre des neuen Buches das Erarbeiten sauberer Begrifflichkeiten, das anspruchsvolle Auseinandersetzen mit nicht immer einfach zu lesenden Reflexionen über das Wesen des Systemischen, oder das Sortieren eigener Praxiserfahrungen mit Hilfe eingängiger Ausarbeitungen zu klinischer Theorie und Praxeologie. Aber bis hin zum Schlusskapitel "Ich als Therapeut – zwischen Faust und Mephisto" sind es immer wieder Bemerkungen zu den Herausforderungen für die handelnden HelferInnen, die das Buch für mich packend machen, die das Bemühen nach- und miterleben lassen, nun etwas anzufangen mit dem (mehr oder weniger) mühsam Erarbeiteten.
Insofern erscheint mir dieses Buch wie ein sinnstiftendes Bindeglied zwischen den notwendigen Ermahnungen in Richtung einer auch forschungswissenschaftlich relevanten systemischen Therapie (Schiepek 1999) und denen in Richtung kompromisslosen Aufgreifens der KlientInnenperspektive (Duncan & Miller 2000). Die Rolle der systemischen TherapeutIn kann nicht drehbuchartig übernommen werden. Sie muss sich - über das professionelle Erarbeiten einer Vielzahl von spezifischen Kenntnissen und Fertigkeiten hinaus – in der eigenhändigen Vertreibung aus dem Paradies der Gewißheit bewähren, wie es im Schlusskapitel angedeutet wird. Es scheint allerdings, dass Ludewig selbst sich zumindest gegenüber institutionalisierten Formen der Selbstreflexion in der Ausbildung von TherapeutInnen seine Skepsis bewahrt hat. Den Begriff des "kunstvollen Balanceakts" benutzt er nur für das Koordinieren der beiden zentralen therapeutischen Handlungsweisen: dem Bestätigen/Würdigen einerseits und dem Fördern/Anregen andererseits. Es dürfte sich jedoch auch bei der persönlichen Entwicklung zu systemischen Therapeutinnen und Therapeuten um Balanceakte handeln, wenn es etwa zum "Ziel der Selbstreflexions-Einheiten im Rahmen einer systemischen Ausbildung" heißt, diese sollten dazu dienen, "den angehenden Therapeuten und Beratern zu helfen, sich sicher genug zu fühlen, um förderliche Hilfebeziehungen zu gestalten, zugleich aber unsicher genug zu bleiben, um der "Versuchung der Gewißheit" zu widerstehen und ihre Klienten nicht zu bevormunden" (S.154). Und weiter: "In diesem Sinn wäre der Wert einer systematisierten Selbsterfahrung darin zu erkennen, daß der Lernende lernt, sich seiner Instabilität bzw. Veränderbarkeit bewußt zu werden und zu erkennen, daß die erlebte Konstanz bei sich und anderen letzten Endes eine Sinngebung ist" (S.156). Erst auf einem solchen Hintergrund gewinnt für mich die folgende Anregung für TherapeutInnen den Rang eines ethischen Imperativs: "Bemühe Dich, den bestmöglichen Therapeuten für diesen Klienten zu verkörpern, und werde Dir bewußt, daß Deine Arbeit die Wahlmöglichkeiten dieses Klienten vermehren und verringern kann; ansonsten verlasse Dich auf Euren Dialog!" (S.127).
Wenn es nun um eine kritische Bestandsaufnahme des Erreichten geht: Was hat sich bewährt und wo ist es offensichtlich weiter gegangen? Systemisches Denken enthält nach Ludewig einen universellen Anspruch. Grundlage für diesen Anspruch ist die Definition menschlicher Existenz als das wechselseitige Konstituieren von Individuum und Gemeinschaft. Als Grundmatrix wird das rekursive Verhältnis von <Ich/Du - Wir> gesehen. Menschen, so Ludewig, können sich nur dadurch als Personen hervorbringen, dass sie sich auf den jeweils anderen beziehen. Insofern sei "Wir" gleichbedeutend mit der "Einheit der Differenz" von Menschen. "Ich" sei der zusammenfassende Begriff für alles, was mich vom anderen unterscheidet. Dieses unterschiedene "Ich" entsteht in der Folge eines selbstrückbezüglichen Erkenntnisprozesses. Ich kann "ich" erst dann für mich in Anspruch nehmen, wenn ich dies auch anderen Wesen zugestehe, anderen Wesen also "Gleichhaftigkeit" zuschreibe. Das andere "Ich" wird dadurch zum "Du". Da Ich und Du sich durch Operationen des Beobachtens im Verlauf sozialer Begegnungen (Kommunikation) gegenseitig hervor bringen, sind sie sich wechselseitig Bedingung ihrer Existenz. Es liegt auf der Hand, dass Passagen wie diese über das systemische Weltbild für jene LeserInnen ein Hemmnis darstellen dürften, die sich auf praktische Anregungen konzentrieren wollen. Mir scheint es jedoch notwendig zu sein, sich auch mit den Wurzeln des Ansatzes zu beschäftigen, um der Gefahr der Banalisierung zu entgehen. Es lässt sich nicht leugnen, dass auch unter der Bezeichnung "systemisch" manch heiße Luft verkauft wird, Wortgeklingel, windschnittiges Anpassen an eine vermeintliche Mode. Womit haben wir es statt dessen zu tun?
"Das Kürzel "systemisch" steht hier für eine Bemühung oder Suchrichtung, die der Komplexität menschlichen Lebens und Zusammenlebens gerecht zu werden versucht" heißt es bei Ludewig (S.37), und systemische Therapie verwirkliche sich als "Variationen einer systemischen Haltung" (S.37). Kennzeichnende Elemente des Vorgehens sind: Kontextbezogenheit, Reflexivität, Neugier und dialogische Offenheit, Kreativität, soziale Empfindsamkeit, Ressourcen- und Lösungsorientiertheit, Ko-inspiration und Ko-operation, sowie Kundenorientierung. Als Leitmotive im engeren Sinne werden die Evaluationskriterien Nutzen, Schönheit, Respekt genannt, das Umsetzen einer systemische Diagnostik als "Überlebensdiagnostik" , die Hilfe dabei , "ein zukunftsbezogenes, realisierbares Anliegen an die Therapie zu formulieren, damit dies als Grundlage für die Vereinbarung eines Auftrags dienen kann", sowie "durch geeignete Maßnahmen einen auftragsbezogenen, "kunstvollen Balanceakt" zu vollbringen zwischen Würdigung (Bestätigung, Anerkennung) des Bestehenden und einer angemessenen Anregung bzw. verstörenden Einwirkung auf das Bestehende, um die gewünschte Veränderung anzustoßen und zu fördern" (S.47). Die Aufforderung zu einer auftragsbezogenen Evaluation rundet die Leitmotive ab, verbunden mit dem Bekenntnis: "Therapie muß als gesellschaftliche Dienstleistung beurteilbar sein" (S.126).
Gerade das letztgenannte Bekenntnis gewinnt natürlich Brisanz angesichts der wiederholt variierten Aussage, dass nach systemischem Verständnis Therapie nicht die Beseitigung einer Störung oder die Heilung einer Krankheit anstrebe. Stattdessen ergibt sich systemisches Beisteuern zu hilfreichen Veränderungen auf dem Weg über das sorgfältige Klären und Erarbeiten von Aufträgen. Diese Aufträge sind es, die das Einmischen in die Lebenswirklichkeit anderer Menschen erst legitimieren. Auf dieser Grundlage versteht sich das Bemühen um "Anregungen zum Wechsel der Präferenzen", um "Herstellung eines für die Veränderung des Klienten günstigen sozialen Milieus bzw. eines hilfreichen therapeutischen Systems". Und dann wieder ein Satz, der ohne die vorbereitende Reflexion des systemischen Weltbildes geradezu ungeschützt gegenüber Banalisierungen sein dürfte: "Der Therapeut geht mit seinen Klienten einen allenfalls durch die Randbedingungen einer Therapie spezifizierten Dialog ein; er begibt sich gewissermaßen auf eine "Fahrt ins Blaue", in deren unvermeidlich flüchtigem Verlauf er sich selbst und seine Klienten als vielfältig und uneinheitlich begreifen lernt" (S.127). An anderer Stelle spricht Ludewig von "dieser zuweilen erschreckenden Bodenlosigkeit" (S.225) und bemerkt so lapidar wie empathisch: "Die Konsequenzen einer systemischen Orientierung für Helferinnen und Helfer sind beträchtlich und zeitweise schwer zu tragen" (S.229). Gelegentlich wirkt es weniger wie eine Gratwanderung, sondern mehr wie eine Achterbahn, was an Herausforderungen für systemische TherapeutInnen aufscheint. Nicht umsonst bemüht Ludewig Faust und Mephisto als Reflecting Team für seine abschließenden Überlegungen. Wer jedoch bereit ist, sich auf diese Herausforderung einzulassen, wird belohnt durch vielfältige und in ihrer Praxisrelevanz unmittelbar einleuchtende Beschreibungen. Bereits bekannt: die 10+1 Leitsätze/Leitfragen, ebenfalls das Unterscheiden zwischen Anleitung, Beratung, Begleitung und Therapie, dieses Mal differenziert je nach Auftragslage: durch Hilfesuchende selbst strukturiert (Helfen), durch Dritte veranlasst (Fürsorge). Kontrolle ersetzt im Falle von Fürsorge Therapie, wenn es um das Beenden einer veränderlichen Problemlage durch Einschränkung von Möglichkeiten geht. Weitere Anregungen finden sich zu Hauf.
Als bedeutsame Weiterentwicklung gegenüber 1992 ist u.a. das Unterscheiden von Problemsystemen und Lebensproblemen zu nennen. Diese Erweiterung der klinischen Theorie auf intrapsychische Verhältnisse erscheint Ludewig zwar "schon aus erkenntnistheoretischen Gründen als äußerst riskant" (S.139), sich jedoch "alternativ auf die Interaffektivität zwischen Therapeut und Klient zu verlassen, um Lebensprobleme aufzudecken und zu erklären, wäre noch riskanter. Der Mystik und der Hellseherei würden Tür und Tor geöffnet" (S.139). Es kommt statt dessen darauf an, einen kommunikativen Raum zu ermöglichen, in dem das Thematisieren von Lebensproblemen einerseits "ernst genommen" wird, es andererseits dem prinzipiellen "Wandel von Gedanken und Kommunikationen" anvertraut werden kann. Aber auch hier bietet Ludewig keine einfachen Sicherheiten: Gerade wegen des prinzipiellen Wandels "läßt sich die Veränderung oder Nicht-Veränderung eines Problems im Laufe einer Therapie nur bedingt als "Erfolgskriterium" verwenden. Nicht einmal gleichlautende Problemdefinitionen am Anfang und am Ende der Therapie müssen dasselbe bedeuten" (S.50). Die Vertreibung aus dem Paradies der Gewissheit wird radikal weiter gedacht. Dem steht nichts anderes gegenüber als "das mühsam erworbene Know-How für den Umgang mit Ungewißheit" (S.165). Praktisch heißt dies, sich auf transparentes und überprüfbares Beisteuern zu konzentrieren (Auftragsklärung, Kontraktentwicklung) und im Hinblick auf eine systemisch orientierte Ethik, "kein anderes Fundament [zu] beanspruchen als das der persönlichen Verantwortung" (S.230).
Die Lektüre dieses Buches ist sicher kein beruhigendes Unterfangen. Ludewig mutet sich und seinen LeserInnen etwas zu. Dem beinahe revolutionären Geist der achtziger Jahre, von dem Ludewig auch spricht, der damaligen Freude am Neuen folgt nun die Bereitschaft, "in die Niederungen wissenschaftlicher Zurückhaltung und professioneller Offenheit zurückzukehren" (S.68). Schließlich sei systemische Therapie "kein sektiererischer, ideologischer Ansatz, der an befreiender Unverbindlichkeit festhält, sondern sie ist die ernst gemeinte Umsetzung einer wissenschaftlichen Denkweise – systemischen Denkens – in die Praxis der Leidensminderung" (S.68). Bescheidenes und beharrliches Dickbrettbohren sind angesagt, das Bemühen um Anschlußfähigkeit und perspektivische Geduld. Das klingt vielleicht nicht so viel versprechend wie in den Aufbruchsjahren, dürfte aber zur Stabilisierung des Fundaments erheblich beitragen. "Wir werden unsere Aktivitäten präziser auf das einzustellen haben, was wir tatsächlich leisten können", heißt es, "nämlich Menschen zu helfen, mit dem, was sie in biologischer, psychischer und sozialer Hinsicht sind und sein können, besser zu leben" (S.26).
Ludewig gelingt mit diesem Buch ein Kunststück: Er befreit systemische Therapie von allen Zugeständnissen an werbepsychologisch unverzichtbar erscheinende Versprechungen. Er stellt sich den Zumutungen, die sich aus den Prämissen dieses Ansatzes geben ohne sie mit vermeintlichen Sicherheiten abzufedern. Vielleicht entsteht gerade dadurch der nachhaltige Eindruck, dass eine so verstandene systemische Therapie lebensvalide ist. Der Eindruck: ja, so könnte es gehen, das passt zu den Erfahrungen in der Alltagspraxis, so könnte es zugehen: nützlich, schön, respektvoll!
Literatur:
Duncan, B. & S. Miller (2000). The
Heroic Client. Doing Client-Centered and Outcome-Informed Therapy.
San Francisco: Jossey-Bass
Ludewig, K. (1992). Systemische Therapie. Grundlagen klinischer Theorie
und Praxis. Stuttgart: Klett-Cott
Schiepek, G. (1999). Die Grundlagen der Systemischen
Therapie. Theorie – Praxis – Forschung. Göttingen: Vandenhoeck
& Ruprecht
Wolfgang Loth (kopiloth@t-online.de)
Zurück zur Startseite
Zurück zu Veröffentlichungen